Vor zwei Jahren bekam ich von einem Freund zu meinem 50. Geburtstag Philippe Sands‘ Buch „Rückkehr nach Lemberg“, eines der wichtigsten und wunderbarsten Geschenke meines Lebens, da es gerade zur richtigen Zeit bei mir landete: Ich hatte gerade das Buch über die Attersee-Villen fertiggestellt und mich auf die Verrücktheit, ohne Pause sofort ein weiteres Buch zu schreiben, eingelassen. Doch Sands‘ Buch hat mich geleitet und mich dazu inspiriert, Fakten mit persönlichen Erlebnissen zu verknüpfen. Denn gerade darin besteht einer der Reize des Buches. Und ich glaube, es ist mir gelungen: Das Buch handelt von den vertriebenen Musikern der Wiener Volksoper – vielfältige Querverbindungen taten sich auf, und ich habe all diese auch thematisiert: Von dem einzigen Menschen in Guatemala, den ich kenne, und dessen Großvater, der einen Cellisten des Volksopernorchesters gerettet hat. Oder meine Erlebnisse im Archiv der Metropolitan Opera.

Das ist der erste Strang.

Der zweite Strang führt zu Philippe Sands‘ neuem Buch „Die Rattenlinie“ und der Biographie von Otto und Charlotte Wächter. Deren Sohn Otto Wächter junior ist in unserem Nebenhaus aufgewachsen, Otto war in der Pfarre Pötzleinsdorf als Diakon tätig, meine Mutter engagierte sich dort ebenfalls. Uns wurde immer gesagt, dass Otto dieses Amt innehatte als Sühne für die Taten seines Vaters. Er war ein sehr sanfter und liebenswürdiger Mensch und es war selbstverständlich, dass er bei meiner Hochzeit im Jahr 1991 als Diakon dabei war.

Am 25. Dezember 2020 habe ich begonnen, die „Rattenlinie“ zu lesen, und plötzlich spielt meine eigene Familiengeschichte hinein: Mein Urgroßvater war Robert Winterstein, den Otto Wächter im Jahr 1938 aus dem Staatsdienst entließ und der in der Folge im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Ich wohne noch immer auf unserem alten Grundstück und besitze das Dokument, auf das Sands verweist, konnte die Unterschrift aber niemals als „Wächter“ identifizieren.

Was für eine eigenartige Situation: Man kennt eine Familie so lang, lebt Jahrzehnte in der Nachbarschaft, ist freundschaftlich verbunden – und plötzlich ergibt sich eine weitere Verbindung, die die Geschichte meiner Familie radikal verändert hat und uns bis heute prägt. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass ich Historikerin bin mit dem Bestreben, vertriebenen und ermordeten Menschen ihre Geschichte zurückzugeben. In meinem letzten Buch „Die Villen von Pötzleinsdorf“ habe ich  meiner eigenen Familie ein Kapitel gewidmet.

Doch es gibt dazu noch weitere Geschichten: Vor vielen Jahren war ich in unserer ehemaligen Villa zu Gast bei sehr netten Schweizer Mietern, er war Österreich-Korrespondent der NZZ. Sie machen mich mit einer Dame bekannt, die sich als Enkelin von Seyß-Inquart entpuppt, ihrem Großvater sehr kritisch gegenüberstehend. Und doch: Das war zu viel für mich. Ihr Großvater hat meinen Urgroßvater („Ein Seyß-Inquart lässt mich nicht verhaften“, war seine Meinung) in eben diesem Haus verhaften lassen und zwei Jahre später meinen Großvater, der nach Holland geflohen war, auf die schwarze Liste gesetzt und ebenfalls verhaften lassen. Er hat wie durch ein Wunder Mauthausen überlebt.

Und auch wenn es keine Sippenhaft gibt: Ich habe fluchtartig das Haus verlassen.

Eine weitere Geschichte führt in unser geliebtes St. Gilgen: Die Familie meiner Großmutter verbringt seit mehr als 140 Jahren die Sommerfrische in St. Gilgen am Wolfgangsee, durch einen raschen Schachzug ist unser Haus dort von der Enteignung verschont geblieben. Meine Großmutter, die immer auf Konsens bedacht war, sagte mir trotzdem einmal, dass sie mir nicht verraten würde, wer hier aller ein Nazi war, denn sonst könnte ich mit niemandem mehr reden. Und das bezog sich sicher nicht nur auf die Einheimischen, sondern auch auf viele Sommerfrischler – wie die Familie Bleckmann, aus der Charlotte Wächter stammt.

Die Erkenntnisse der Weihnachtstage: Wir haben viel diskutiert, in unterschiedlichen Konstellationen. Natürlich hat es uns schockiert, dass ausgerechnet Otto Wächter die Entlassung unseres Urgroßvaters unterschrieben hat.

Doch rücken so manche Erinnerungen in ein neues Licht: In den 1980er Jahren herrschte in der Pfarre Pötzleinsdorf eine sehr aufgeheizte Stimmung: Leonore Stur, geborene Simon, über deren Familie ich im Pötzleinsdorfbuch schreibe, war eine sehr streitbare Person. Nun, seit ich mehr über sie weiß, wird manches verständlich: Ihr Vater Georg Simon heiratete Rosa Barwig, die Tochter des Bildhauers Franz Barwig, der auf der gegenüberliegenden Seite des Pötzleinsdorfer „Tales“ lebte. Rosas Brüder konnten mit dem jüdischen Schwager Georg nichts anfangen – und das Drama nahm seinen Lauf: Georg Simon floh nach der Machtergreifung nach Frankreich – seine Schwäger boten ihm in Wien keinen Schutz. Er wurde dort gefasst und deportiert.

Seine Tochter Leonore konnte dies verständlicherweise nie verwinden. Und dann stieß sie in der Pfarre Pötzleinsdorf auf den Diakon Otto Wächter, Sohn des Otto Wächters. Die lautstarken Streitigkeiten sind legendär – denn Otto Wächter war Leonore Stur völlig unterlegen. Dieses Ungleichgewicht zog dann auch meine Mutter in die Auseinandersetzungen mit hinein. Denn in einem der vielen Streitgespräche versuchte meine Mutter, die Wogen zu glätten und ergriff Ottos Partei. Darauf schrie Leonore Stur meine Mutter an: „Und das aus dem Munde einer Winterstein.“ Aus ihrer Sicht ein berechtigter Vorwurf, doch im Sinne der Kalmierung nur ein weiterer Konfliktpunkt.

Und so verweben sich meine Pötzleinsdorf-Recherchen mit Philippe Sands‘ Biographie über Otto Wächter.

Ich kenne die Familie von Diakon Otto Wächter mein Leben lang. Und immer schon war mir der extreme Katholizismus einiger seiner Kinder sehr suspekt. In der jüngeren Generation wendet sich dieser noch weiter nach rechts. Ein Schwiegersohn entwendete aus einer Kirche in Rom indigene Figuren, die dem Papst geschenkt wurden, und warf sie in den Tiber. Nicht ohne diese Aktion zu filmen.

https://www.katholisch.de/artikel/23486-oesterreichischer-lebensschuetzer-warf-pachamama-figuren-in-tiber

Ein Extremismus bringt einen anderen hervor – und dieser bleibt extrem rechts.

Andere Familienmitglieder können damit nichts anfangen, distanzieren sich – und bleiben doch unter dem patriarchalischen Joch, das vielleicht vielmehr ein matriarchalisches ist: Denn die Großmutter Charlotte bleibt wohl eine prägende, dominante und starke Persönlichkeit im Leben der Enkelkinder. Anders sind diese Entwicklungen kaum zu interpretieren. So schwach Diakon Otto war, so liebevoll war seine Frau. Doch auch sie litt wohl unter der dominanten Schwiegermutter. Diese griff offenbar tief in das Gedankengut der Enkel ein: Denn einer ihrer Enkel erklärte seiner Tanzschulpartnerin auf einem Ball stolz aus dem Nichts: „Mein Großvater war federführend am Dollfuß-Mord beteiligt.“ In den 1980er Jahren. Alle wussten also um Otto Wächters Rolle im Nazi-Regime – doch warum war der Enkel stolz zu einer Zeit, als sein Vater schon längst entschieden hatte, durch sein Amt des Diakons die Taten seines Vaters zu sühnen? Was wurde tatsächlich tradiert?

Am 6. Jänner treffe ich meine älteste Freundin zu einem Spaziergang – und unwillkürlich diskutieren wir ebenfalls dieses Thema. Plötzlich erzählt sie mir, dass sie in den späten 1980er Jahren einmal Silvester mit einem Teil der Wächter-Cousinage feierte und sich noch heute erinnert, dass dort über diverse Themen in sehr eindeutiger Weise gesprochen wurde. Eine Stunde später ruft mich eine Wächter-Enkelin an und bestätigt meine Vermutung, dass Charlotte als Großmutter die Familie dominierte und prägte. Und auch an anderen Familiengeschichten lässt sie mich teilhaben. Vieles bleibt offen, vieles ist noch zu diskutieren.

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Vor zwei Jahren bekam ich von einem Freund zu meinem 50. Geburtstag Philippe Sands‘ Buch „Rückkehr nach Lemberg“, eines der wichtigsten und wunderbarsten Geschenke meines Lebens, da es gerade zur richtigen Zeit bei mir landete: Ich hatte gerade das Buch über die Attersee-Villen fertiggestellt und mich auf die Verrücktheit, ohne Pause sofort ein weiteres Buch zu schreiben, eingelassen. Doch Sands‘ Buch hat mich geleitet und mich dazu inspiriert, Fakten mit persönlichen Erlebnissen zu verknüpfen. Denn gerade darin besteht einer der Reize des Buches. Und ich glaube, es ist mir gelungen: Das Buch handelt von den vertriebenen Musikern der Wiener Volksoper – vielfältige Querverbindungen taten sich auf, und ich habe all diese auch thematisiert: Von dem einzigen Menschen in Guatemala, den ich kenne, und dessen Großvater, der einen Cellisten des Volksopernorchesters gerettet hat. Oder meine Erlebnisse im Archiv der Metropolitan Opera.

Das ist der erste Strang.

Der zweite Strang führt zu Philippe Sands‘ neuem Buch „Die Rattenlinie“ und der Biographie von Otto und Charlotte Wächter. Deren Sohn Otto Wächter junior ist in unserem Nebenhaus aufgewachsen, Otto war in der Pfarre Pötzleinsdorf als Diakon tätig, meine Mutter engagierte sich dort ebenfalls. Uns wurde immer gesagt, dass Otto dieses Amt innehatte als Sühne für die Taten seines Vaters. Er war ein sehr sanfter und liebenswürdiger Mensch und es war selbstverständlich, dass er bei meiner Hochzeit im Jahr 1991 als Diakon dabei war.

Am 25. Dezember 2020 habe ich begonnen, die „Rattenlinie“ zu lesen, und plötzlich spielt meine eigene Familiengeschichte hinein: Mein Urgroßvater war Robert Winterstein, den Otto Wächter im Jahr 1938 aus dem Staatsdienst entließ und der in der Folge im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Ich wohne noch immer auf unserem alten Grundstück und besitze das Dokument, auf das Sands verweist, konnte die Unterschrift aber niemals als „Wächter“ identifizieren.

Was für eine eigenartige Situation: Man kennt eine Familie so lang, lebt Jahrzehnte in der Nachbarschaft, ist freundschaftlich verbunden – und plötzlich ergibt sich eine weitere Verbindung, die die Geschichte meiner Familie radikal verändert hat und uns bis heute prägt. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass ich Historikerin bin mit dem Bestreben, vertriebenen und ermordeten Menschen ihre Geschichte zurückzugeben. In meinem letzten Buch „Die Villen von Pötzleinsdorf“ habe ich  meiner eigenen Familie ein Kapitel gewidmet.

Doch es gibt dazu noch weitere Geschichten: Vor vielen Jahren war ich in unserer ehemaligen Villa zu Gast bei sehr netten Schweizer Mietern, er war Österreich-Korrespondent der NZZ. Sie machen mich mit einer Dame bekannt, die sich als Enkelin von Seyß-Inquart entpuppt, ihrem Großvater sehr kritisch gegenüberstehend. Und doch: Das war zu viel für mich. Ihr Großvater hat meinen Urgroßvater („Ein Seyß-Inquart lässt mich nicht verhaften“, war seine Meinung) in eben diesem Haus verhaften lassen und zwei Jahre später meinen Großvater, der nach Holland geflohen war, auf die schwarze Liste gesetzt und ebenfalls verhaften lassen. Er hat wie durch ein Wunder Mauthausen überlebt.

Und auch wenn es keine Sippenhaft gibt: Ich habe fluchtartig das Haus verlassen.

Eine weitere Geschichte führt in unser geliebtes St. Gilgen: Die Familie meiner Großmutter verbringt seit mehr als 140 Jahren die Sommerfrische in St. Gilgen am Wolfgangsee, durch einen raschen Schachzug ist unser Haus dort von der Enteignung verschont geblieben. Meine Großmutter, die immer auf Konsens bedacht war, sagte mir trotzdem einmal, dass sie mir nicht verraten würde, wer hier aller ein Nazi war, denn sonst könnte ich mit niemandem mehr reden. Und das bezog sich sicher nicht nur auf die Einheimischen, sondern auch auf viele Sommerfrischler – wie die Familie Bleckmann, aus der Charlotte Wächter stammt.

Die Erkenntnisse der Weihnachtstage: Wir haben viel diskutiert, in unterschiedlichen Konstellationen. Natürlich hat es uns schockiert, dass ausgerechnet Otto Wächter die Entlassung unseres Urgroßvaters unterschrieben hat.

Doch rücken so manche Erinnerungen in ein neues Licht: In den 1980er Jahren herrschte in der Pfarre Pötzleinsdorf eine sehr aufgeheizte Stimmung: Leonore Stur, geborene Simon, über deren Familie ich im Pötzleinsdorfbuch schreibe, war eine sehr streitbare Person. Nun, seit ich mehr über sie weiß, wird manches verständlich: Ihr Vater Georg Simon heiratete Rosa Barwig, die Tochter des Bildhauers Franz Barwig, der auf der gegenüberliegenden Seite des Pötzleinsdorfer „Tales“ lebte. Rosas Brüder konnten mit dem jüdischen Schwager Georg nichts anfangen – und das Drama nahm seinen Lauf: Georg Simon floh nach der Machtergreifung nach Frankreich – seine Schwäger boten ihm in Wien keinen Schutz. Er wurde dort gefasst und deportiert.

Seine Tochter Leonore konnte dies verständlicherweise nie verwinden. Und dann stieß sie in der Pfarre Pötzleinsdorf auf den Diakon Otto Wächter, Sohn des Otto Wächters. Die lautstarken Streitigkeiten sind legendär – denn Otto Wächter war Leonore Stur völlig unterlegen. Dieses Ungleichgewicht zog dann auch meine Mutter in die Auseinandersetzungen mit hinein. Denn in einem der vielen Streitgespräche versuchte meine Mutter, die Wogen zu glätten und ergriff Ottos Partei. Darauf schrie Leonore Stur meine Mutter an: „Und das aus dem Munde einer Winterstein.“ Aus ihrer Sicht ein berechtigter Vorwurf, doch im Sinne der Kalmierung nur ein weiterer Konfliktpunkt.

Und so verweben sich meine Pötzleinsdorf-Recherchen mit Philippe Sands‘ Biographie über Otto Wächter.

Ich kenne die Familie von Diakon Otto Wächter mein Leben lang. Und immer schon war mir der extreme Katholizismus einiger seiner Kinder sehr suspekt. In der jüngeren Generation wendet sich dieser noch weiter nach rechts. Ein Schwiegersohn entwendete aus einer Kirche in Rom indigene Figuren, die dem Papst geschenkt wurden, und warf sie in den Tiber. Nicht ohne diese Aktion zu filmen.

https://www.katholisch.de/artikel/23486-oesterreichischer-lebensschuetzer-warf-pachamama-figuren-in-tiber

Ein Extremismus bringt einen anderen hervor – und dieser bleibt extrem rechts.

Andere Familienmitglieder können damit nichts anfangen, distanzieren sich – und bleiben doch unter dem patriarchalischen Joch, das vielleicht vielmehr ein matriarchalisches ist: Denn die Großmutter Charlotte bleibt wohl eine prägende, dominante und starke Persönlichkeit im Leben der Enkelkinder. Anders sind diese Entwicklungen kaum zu interpretieren. So schwach Diakon Otto war, so liebevoll war seine Frau. Doch auch sie litt wohl unter der dominanten Schwiegermutter. Diese griff offenbar tief in das Gedankengut der Enkel ein: Denn einer ihrer Enkel erklärte seiner Tanzschulpartnerin auf einem Ball stolz aus dem Nichts: „Mein Großvater war federführend am Dollfuß-Mord beteiligt.“ In den 1980er Jahren. Alle wussten also um Otto Wächters Rolle im Nazi-Regime – doch warum war der Enkel stolz zu einer Zeit, als sein Vater schon längst entschieden hatte, durch sein Amt des Diakons die Taten seines Vaters zu sühnen? Was wurde tatsächlich tradiert?

Am 6. Jänner treffe ich meine älteste Freundin zu einem Spaziergang – und unwillkürlich diskutieren wir ebenfalls dieses Thema. Plötzlich erzählt sie mir, dass sie in den späten 1980er Jahren einmal Silvester mit einem Teil der Wächter-Cousinage feierte und sich noch heute erinnert, dass dort über diverse Themen in sehr eindeutiger Weise gesprochen wurde. Eine Stunde später ruft mich eine Wächter-Enkelin an und bestätigt meine Vermutung, dass Charlotte als Großmutter die Familie dominierte und prägte. Und auch an anderen Familiengeschichten lässt sie mich teilhaben. Vieles bleibt offen, vieles ist noch zu diskutieren.

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